RB: Seit wann sind Sie, Herr Bauer, Museumsleiter des Kunstmuseums Singen?
CB: Seit Mai 1993 bin ich hier in Singen und bin immer noch da, weil ich von Anfang an immer sehr frei arbeiten konnte… Es war ein Glück, dass mich mehrere Oberbürgermeister und Gemeinderäte unterstützten, die alle sehr kulturaffin waren. „Laufen Sie einfach mal los und schauen Sie, was Sie machen können“ – das ist natürlich eine Chance, die ganz wunderbar ist! Bei anderen Häusern in Baden Württemberg war diese große Freiheit beim Arbeiten damals nicht selbstverständlich!
RB: Was war denn ihre erste Ausstellung in Singen?
CB: Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr so ganz genau, denn inzwischen sind es sehr viele Ausstellungen, die wir gemacht haben… Auf unserer Webseite gibt es eine Chronologie… ich erschrecke immer, wenn ich hineinschaue, denn wir haben unglaublich viele Ausstellungen gemacht und unglaublich viele Projekte entweder initiiert oder begleitet. Am Anfang habe ich die Schwimmflügelchen angezogen und dann angefangen einfach mal zu schwimmen…
RB: Das bedeutet wohl viel Freiheit und Arbeit zugleich!
CB: Ich habe mir vor allem zuerst die Sammlung angeschaut. Ich bin einer, der davon überzeugt ist, dass ein Museum sich von einem Kunsthaus dadurch unterscheidet, dass es eine eigene Sammlung hat und dass die eigene Sammlung ein ganz wichtiger Kern für die Arbeit ist – man darf nicht gegen die Sammlung arbeiten, denn dann würde man sie vernichten. Man kann die Sammlung auch nicht als gesicherten Bestand ansehen, denn man muß sie immer wieder neu erforschen. Und über die Jahrzehnte hinweg ändern sich die Fragen an einen Künstler, oder an eine Künstlergruppe. Das haben wir gemerkt bei der Ausstellung „Moderne am Bodensee. Walter Kaesbach und sein Kreis” (2008/09). Das schöne Ergebnis von diesem Projekt war, dass wir festgestellt haben, dass es keine Künstlergruppe im eigentlichen Sinn gab – sondern einen zusammen gewürfelten Haufen, der durch äußeren Druck eng miteinander verbunden war. Plötzlich hatten wir die Menschen auf dem Schirm, die um die Hörikünstler herum sonst noch da waren: Die auf Zeit am See waren, die geschrieben haben, die mit den Hörikünstlern nach dem Krieg wieder Ausstellungen gemacht haben, also dieser ganze Komplex an Künstlern und Unterstützern, die um diese fest auf der Höri lebenden Künstler herum agierten. Und die haben wir seitdem auch im Blick und konnten daher das eine oder andere Sammlungsobjekt auch kaufen oder uns schenken lassen. Und das erweitert den Blick auf die Hörikünstler ganz enorm. Wir sind nicht daran interessiert, “nur“ Werke zu haben, sondern auch dieses ganze Netzwerk aufzeigen zu können.
Die Werke, die im Depot sind, die sind natürlich auch materiell der Bestand und das Wichtige des Hauses. Wenn man mit dem Bestand nicht arbeitet, kann man daraus auch keine “Funken” schlagen. Dann hat man zwar ein schönes Schmuckstück in der Sammlung, aber viel wichtiger ist es doch, über diese Arbeiten und deren Erforschung den Kontext des Werkes zu entschlüsseln. Das war immer schon ein Hauptanliegen meiner Arbeit. Wir wollen nicht nur Kunstgeschichte zelebrieren im Sinne von „Wir zeigen euch die schönsten Sachen“, sondern wir wollen Kunstgeschichte lebendig machen. Wir wollen deutlich machen, wie die eigene Kunstgeschichte vor Ort ein Teil der “großen” Kunst- und allgemeinen Geschichte ist. Dann wird es spannend.
RB: Bleiben wir doch bei Singen und der Kunst. Singen ist im Volksmund eine Arbeiter- und Industriestadt, Kunst und Kultur wurden oder werden im Allgemeinen nicht in Singen verortet… Dabei ist es doch genau umgekehrt. Durch die Ansiedlung der großen Firmen in Singen und die Anwerbung von Arbeitern hat Singen sich einen gewissen Reichtum erarbeitet, der Kunst und Kultur im großen Stil erst möglich gemacht hat.
CB: Singen darf stolz darauf sein, eine Arbeiter-, Industrie-, Handelsstadt und eine Kulturstadt zu sein. Wenn man sich beispielsweise in Baden-Württemberg umschaut, dann wird man feststellen, dass die interessanten Museen sehr, sehr häufig in Industrie- oder Handelsstädten sind – weil dort Gewerbefleiß war und sich daraus eine materielle Grundlage gebildet hat. Aber als zweites kommt dazu, dass man sich anstrengen muss – es reicht einfach nicht, zu sagen, es läuft ja – denn in der Konkurrenz der Städte untereinander kann man nur eine Duftmarkte setzen, wenn man sich unterscheidet. Und eine ganz wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist die Kultur, die dafür sorgt, dass man aus der Masse der Städte herausragt. Man muss die Denkweise umdrehen: Ich bin in Tuttlingen und Albstadt-Ebingen groß geworden… das sind ja auch keine Kunststädte per se… aber die haben auch diese Chance genutzt. Und Singen hat die Chance mit Erfolg genutzt! Wir sind inzwischen ein Leuchtturm auf der kulturellen Landkarte!
RB: Im Mai 2023 ist es 30 Jahre her, seit Sie in Singen die Schwimmflügel angezogen haben – eine lange Zeit, die Sie genutzt haben, um unsere kulturelle Landkarte farbiger zu machen! Haben Sie ein Beispiel für die Leser?
CB: Ja die Hohentwiel-Ausstellung, kurz „HTWL2019/20“. Dazu gibt es einen wunderschönen Bildband mit 248 Seiten und unzähligen Bildern, Skizzen, Texten und alten Stichen. Der eine oder andere könnte jetzt sagen: Tja das ist jetzt aber sehr regional. Den Einwand würde ich gelten lassen, wenn wir das so gemacht hätten, wie es oft gemacht wird: Wir sammeln alle Bilder zu diesem Thema und bestücken damit die Ausstellung. Punkt. Das wäre regional gewesen. Wenn man aber die Kunstgeschichte mit der Literatur-, der Landes- und Baugeschichte, der Tourismus- und Naturschutzgeschichte verbindet, dann sind wir weit entfernt vom bloßen regionalen Denken. Deshalb haben wir dieses umfangreiche Werk nicht allein gestemmt, fünf weitere Fachleute wirkten mit. Dieses Team-Working war ein großes Glück…
Rebekka Steiger (*1993) – blue streak – 2020 – Tusche auf Leinwand – 190 x 240 cm – Courtesy die Künstlerin und
Galerie Urs Meile, Beijng-Luzern – Foto: Bernhard Strauss – © Rebekka Steiger
RB: Die Doppelausstellung „OHNE TITEL. Junge Malerei aus Süddeutschland und der Deutschschweiz“ wurde am 4.12.2022 in Singen und Schaffhausen eröffnet. Wie kam es dazu?
CB: Das hat eine gewisse Tradition. Ich versuche immer wieder mit Schweizer Kollegen ein Projekt zu machen, weil ich überzeugt bin, dass wir in einem gemeinsamen Sprach- und Kulturraum leben. Und die Grenze ist trotzdem etwas, das manifest in den Köpfen auf beiden Seiten der Grenze ist – das muss man immer wieder durchlöchern und duchbrechen. Das ist der eine Aspekt. Der zweite : Mit dem Museum zu Allerheiligen habe ich schon mehrere Projekte gemacht. Das Museum ist das viertgrößte der Schweiz und liegt im unmittelbarer Nähe zu uns. Das wäre schon ziemlich borniert und merkwürdig, wenn man auf ein solches Haus von Singen aus gar nicht schauen würde. Viele Sammlungsbestände haben wir gemeinsam. Da gibt es viele Anknüpfungspunkte. Schaffhausen hat eine lebendige Kulturszene, die für uns ausgesprochen interessant ist.
Christine Streuli (*1975) – Warpainting_007, 2016/17 – Mischtechnik auf Leinwand –
240 x 170 cm – Courtesy die Künstlerin und Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Depositum
der Sturzenegger-Stiftung – Foto: Bernhard Strauss – © Christine Streuli
Theo Huber (*1987) – Große Barszene, 2021 – Ölfarben auf Leinwand –
180 x 280 cm – Foto: Bernhard Strauss – © Theo Huber
CB: Als Glücksfall kam dazu, dass im April ein neuer junger Kollege ins Museum zu Allerheiligen kam. Wir kannten uns, er war vorher in Friedrichshafen tätig. Julian Denzler und ich führten ein Gespräch. Da war gleich großes Interesse. Katharina Epprecht, die Direktorin des Museums, fand die Idee klasse und dann ging es um die Ausgestaltung des Themas. Seit den 2020er Jahren gibt es eine Renaissance für die Malerei. Und die jungen Künstler haben ein unglaubliches Selbstbewußtsein, ihre Werke sind auf den Betrachter zugehend, sie sind farbintensiv und es gibt diese Larmoyanz über den Tod der Malerei nicht! Die sagen: Interessiert mich nicht, ich mach mein Ding! Dann haben wir geschaut, gibt es auch in unserer Raumschaft Potential an jungen Künstlern, in Süddeutschland und in der Deutschschweiz? Schon bei ganz kurzem Brainstorming hatten wir eine ziemlich lange Liste. Dann haben wir systematisch weiter recherchiert. Zuletzt hatten wir 200 Positionen, aus denen wir die 57 ausgewählt haben, die nun gemeinsam vorgestellt werden. Die Region muss sich immer selbst am Haarschopf packen und zeigen, was sie kann. Das Ergebnis ist keineswegs provinziell; denn meistens haben die Künstler zwei Standbeine; eins in der Region und eins in den Zentren. Ganz wichtig ist es uns, dass es einen Katalog gibt. Wenn die Ausstellung längst abgebaut ist, ist der Katalog die Referenz – er zeigt: Dieses Potential ist in der Region vorhanden.
RB: An der Wand neben ihrem Arbeitsplatz hängt ein Spruch von Francis Picabia (1879-1953), der sagte: „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.” Das Zitat passt zu einem offenen Geist, wie Ihnen! Ich bedanke mich für ihre Zeit und wünsche weiterhin spannende Wege…
Gespräch: Roswitha Bosch, M.A. © TV3 Medienverlag, 78224 Singen www.tv3.de
PS: Die drei abgebildeten Werke sind bis 16.04. 2023 im Kunstmuseum Singen zu sehen.
Beitragsbild: Christoph Bauer – Museumsleiter Kunstmuseum Singen